17. Juni 1953: Der Tag der Deutungen

Endlich ist es überstanden. Diverse Radiofeatures sind gehört. Ca. 40 Stunden Fernsehberieselung (von Spielfilm- bis zu Dokumentationsformaten) sind gesehen. Mindestens sechs Buchneuveröffentlichungen und Sonderseiten in vielen Tageszeitungen sind weggelesen. Die Aufmerksamkeit zum 50. Jahrestag des 17. Juni war wesentlich größer als zum 70. Jahrestag der Bücherverbrennungen (10. Mai 1933; für alle die es nicht mitbekommen haben), an denen die deutschen Universitäten (insbesondere die faschistischen Studierendenorganisationen) nicht unwesentlich beteiligt waren. Tatsachen, derer leider nur wenig gedacht wird. Grund genug sich mit zwei Büchern zum 17. Juni zu beschäftigen.

Der 17. Juni ist als Ereignis immer umstritten gewesen. Jede Seite hatte ihre instrumentalisierte Interpretation. In der DDR wurde er hoch offiziell als ›faschistischer Putschversuch‹ gewertet. Die BRD machte aus dem Tag des Aufstandes der Arbeiter im Osten einen Feiertag für den Westen. Motto: “Tag der Deutschen”. Just wurde in Berlin die Straße, die von Westen her auf das Brandenburger Tor zuführt in die “Straße des 17. Juni” umbenannt. Seitdem ritualisierte sich in der Bundesrepublik ein Gedenken.

Die Interpretation als “Tag der Deutschen” ist jedoch mehr als fraglich. Die Arbeiter im Osten standen an dem Tag an der Maschine, während die im Westen ins Grüne fuhren. Interessant ist die Perspektive von 1953, nicht die interessengeleiteten Umdeutungen, die im Laufe der Jahre passieren. So ging es den streikenden Arbeitern in der ›Zone‹ im wesentlichen um Probleme innerhalb der DDR: Anlass waren die um 10% erhöhten Produktionsnormen - also praktisch eine Lohnkürzung - und gestiegene Preise. Es war kein Aufstand mit dem Ziel der deutschen Einheit im Sinne Adenauers.

Hans Bentzien erinnert in seinem Buch über den 17. Juni daran, dass die Frage der Verhinderung der Deutschen Einheit nicht einseitig zu erklären ist. Denn die Reklamation für ein Vorantreiben der Vereinigung seitens des Westens Deutschlands, wie sie 1990 durch den faktischen Anschluss der DDR an die BRD (nach Art. 23 GG) umgesetzt wurde, war Anfang der 50er Jahre noch nicht vorhanden. Diese wurde auch in dem (später nicht mehr gesungenen) Text der DDR-Nationalhymne gefordert. Bentzien liest sich eher so: Die BRD habe die Angebote zur deutschen Vereinigung, die vom Osten gemacht wurden, abgelehnt.

In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass mit der Gründung der Bundesrepublik und der Einführung der D-Mark vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Die Westbindung war wichtiger als die Einheit. Jedoch kann auch an der Aufrichtigkeit der Vorschläge des Ostens gezweifelt werd en: Schließlich musste jedes Bemühen um die deutsche Vereinigung an der Frage des politischen Systems einer so geschaffenen Republik scheitern. Die Wiedervereinigung war also von beiden Seiten mit einem Automatismus der Ausdehnung ihres politischen Systems verbunden.

Manche Zusammenhänge lassen sich nur erklären, wenn in der Geschichte bis zu den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges zurückgegangen wird. So beginnt Bentzien mit seiner Beschreibung nicht erst am Vorabend des 17. Junis. Er schildert den Zustand der Politiker der DDR. Viele von ihnen wurden im Dritten Reich verfolgt und mussten fliehen. Einige von ihnen witterten daher an vielen Stellen faschistische Verschwörungen, die so nicht bestanden.

Des weiteren waren durch die wesentlich deutlichere Entnazifizierung als im Westen große Teile der Wirtschafts- und Verwaltungseliten in der DDR nicht mehr vorhanden. Dies bedeutete - neben einem fehlenden Investitionsprogramm und dem zunehmenden Abgang vor allem der fähigen Leute in den Westen - eine wesentliche wirtschaftliche und politische Schwächung. Walter ›Spitzbart‹ Ulbricht war ein Anhänger des so genannten “beschleunigten Aufbaus des Sozialismus”. Gemeint war damit die Schwerindustrie zuungunsten der Konsumindustrie aufzubauen, was zu erheblichen Unzufriedenheiten in der Bevölkerung führte. Bentzien kritisiert, dass in dieser Situation von der Regierung der DDR immer häufiger persönliche Fehler von Einzelnen für die Probleme verantwortlich gemachte wurden, anstatt sie als strukturelle Probleme zu erkennen.

Für die Bewertung des 17. Juni als “faschistischen Putschversuch” - was bis 1989 offizielle DDR-Version blieb - wurden trotz intensiver Suche es keine Beweise gefunden. Es darf aber nicht unterschlagen werden, dass es zu rechtsextremen Umtrieben kam. So wurde damals an mehreren Orten das Deutschlandlied in allen Strophen gesungen. Des weiteren gilt es zu berücksichtigen, dass die deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiße zu der Zeit von der BRD nicht anerkannt war. Die Einstellung der Konservativen in dieser Frage änderte sich erst 1990.

Der RIAS Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor) -”Eine freie Stimme der freien Welt” - spielte bei den Ereignissen im Juni 1953 eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Für Egon Bahr - damals Redakteur des Senders der US-Armee -hatte der RIAS die Funktion eines Katalysators für die Unruhen. Bentzien geht da viel weiter und meint, der Sender habe die politischen Forderungen in die Ereignisse hineingetragen. Ein Schlüssel zur Bewertung liegt in der Fragestellung, wann die Anweisung von der US-Armee gekommen ist, nach der sich der RIAS mäßigen solle, da eine Erwärmung des Kalten Krieges befürchtet wurde. Bahr terminiert diesen Eingriff auf den 16. Juni. Bentzien meint, es müsse später gewesen sein.

Das Buch von Bentzien beleuchtet Aspekte und Zusammenhänge, die leider sonst etwas zu kurz kommen. Bei der allgemeinen Verklärung der Ereignisse vom Juni 1953 als allumfassend positiven Volksaufstand gegen ein Unrechtsregime (in manchen Darstellungen sogar als Revolution bezeichnet!) sei auch an den randalierenden Mob erinnert. Diesen ordnet Bentzien dem Westen zu, was jedoch nicht zu verabsolutieren ist. Aus dem Mob heraus gab es Anzettelungen zu Schlägereien und es kam sogar zu Lynchmorden. In der heutigen Darstellung werden die negativen Seiten der Aufständigen gerne unterschlagen. Stattdessen wird das sowjetische Militär brutalstmöglich dargestellt, wobei dieses relativ besonnen eingriff (soweit Militär dies überhaupt kann). Wesentlich härter demgegenüber war die ›juristische Aufarbeitung‹ der Ereignisse in der DDR.

Wichtig ist, dass die Ereignisse des 17. Juni nicht isoliert betrachtet werden, wodurch sie allzu häufig aus der heutigen Perspektive in eine sehr reduzierte Deutung geraten. Eine formale Schwäche des Buches von Bentzien besteht darin, dass einige Abkürzungen nicht eingeführt sind. Ein inhaltliches Problem besteht in der unzureichenden Distanzierung von polizeilichen und militärischen Aktion. So macht zwar der Lebenshintergrund des damaligen Ministers Fritz Selbmann, von den Faschisten 13 Jahre in Zwangsarbeit und KZ gebracht, die individuelle Härt e verständlich, mit der er streikende Arbeiter in einem Betrieb mit dem Leben bedrohte, wenn sie nicht sofort ihre Arbeit aufnehmen würden. Ein Rechtfertigungsgrund ist dies aber nicht. Wo ist der gesellschaftliche Fortschritt, den die DDR für sich reklamierte, wenn Menschen unter vorgehaltener Waffe zu Arbeit gezwungen werden?

Auch Stefan Heym, der auf seine späten Tage noch Alterspräsident des Deutschen Bundestages wurde und dessen Name erst im polnischen Exil auf einer Postkarte an seine Eltern entstand, war einer der Verfolgten in Nazi-Deutschland. 1945 kehrte er in einer Sergeantenuniform der US-Armee zurück. Doch die Untersuchungen “unamerikanischer Umtriebe” unter McCarthy bewegten ihn zu einer Übersiedlung in die DDR. Dort konnte sein 1974 erschienener Roman 5 Tage im Juni erst nach 1989 gelesen werden.

Heym schildert darin die Widersprüche im Arbeiter- und Bauernstaat, in dem sich Arbeiter gegen ihre Regierung richteten. Über das Buch sei nicht viel verraten, nur soviel: Es ist spannend geschrieben und ebenso zu lesen - nicht zuletzt wegen einer Liebesgeschichte. Um dies zu lesen, hätte es allerdings den ganzen Rummel um den 50. Jahrestag des 17. Juni nicht bedurft. Das Gedenken fiel in eine Zeit, in der an jedem Tag von neuem überlegt wird, an welcher Stelle Sozialleistungen gestrichen werden können. Dabei hätten die Erinnerungen an den Tag zeigen können, wie sich die Arbeitnehmer damals gewehrt haben: Die Normerhöhungen wurden schließlich zurückgenommen.

Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe, Berlin 2003, edition ost, 214 Seiten, 12,90

Stefan Heym: 5 Tage im Juni, Roman, Gütersloh 1974, C. Bertelsmann, 383 Seiten, Flohmarkt- oder Antiquariatspreis

Einen Kommentar schreiben